Doch nicht alles echt bei 'Newtopia' - ein visionäres TV-Format demontiert sich selbst

Aber war es wirklich visionär? Oder war es von Anfang an zum Scheitern verurteilt? War es naiv zu glauben, ein TV-Sender wolle die Welt verbessern? Eine Chronologie der Ereignisse und eine kritische (Selbst-)Reflexion.

'Newtopia' - das größte TV-Experiment aller Zeiten: 15 Pioniere leben autark und verwirklichen ihre Visionen einer besseren Welt. Mit viel Tamtam und Werbung angekündigt, schickte der private Fernsehsender Sat.1 Ende Februar seine 'Visionäre' ins Rennen. Sie sollten völlig selbstbestimmt und weitgehend isoliert von der Außenwelt ihre ganz persönliche schöne neue Welt erschaffen. Es gab ein paar tausend Euro Startkapital, ein bisschen Holz, eine Scheune und weitere Gegenstände, aus denen die Teilnehmer der Show etwas Großes, etwas Neues errichten sollten. Aus der 'alten Welt', wie es immer wieder so schön heißt, durften sie nur eine Holzkiste mit ein paar Utensilien mitbringen, allerdings musste diese in wenigen Minuten gepackt werden, so dass kluge Entscheidungen angebracht waren. Soweit die Startbedingungen.

So zogen die Kandidaten in die Scheune bzw. auf das Gelände und begannen das TV-Projekt 'Newtopia', dessen Name sich am bereits anno 1516 erschienenen Roman 'Utopia' von Thomas Morus orientiert. Dieser ersann darin eine auf einer Insel lebende Idealgesellschaft und begründete damit das Genre der Sozialutopie. Kurzum: Es geht um nichts weniger als eine bessere Welt. So auch beim TV-Format? Ich war gespannt: Endlich mal etwas 'Querdenkendes' im TV, jenseits des Mainstreams. Dennoch ein großer Adressatenkreis - Sat.1 ist schließlich kein Niemand. Was habe ich mich gefreut: Da war sie, die Chance, flächendeckend Visionen und Utopien 'unters Volk zu bringen'. Ich dachte: "Pioniere, gebt Euer Bestes!"

Nach anfänglich guten Einschaltquoten war schon bald von Quotenflaute die Rede, denn in 'Newtopia' passierte zwar eine Menge, doch nicht wirklich viel in Richtung einer besseren Welt. Im Gegenteil: Die Kandidaten taten sich schwer damit, aus ihren gewohnten Leben auszubrechen und wirklich einmal 'von grundauf anders zu denken'. Die täglichen Zusammenschnitte des per Livestream 24h im Internet verfolgbaren Geschehens beschränkten sich auf Big-Brother-ähnliche Fragen wie 'Wer mit wem?' und wann es wohl den ersten Sex geben würde. Aha, sehr visionär. Erste Gerüchte machten sich breit, von denen sich viele im Nachhinein als wahr erwiesen: Die Scheune sei gar nicht alt, sondern von der Produktion neu erbaut und dann 'auf alt getrimmt' worden. E-Mails könnten nicht frei 'zwischen alter und neuer Welt' hin und her geschickt werden, sondern würden immer erst vom Sender 'gegengelesen' und dann - nach erfolgter Selektion - freigeschaltet. Der ländlich anmutende Nachbarbauer sei gar kein traditioneller Landwirt, sondern einer der Hauptfunktionäre der Agrarlobby. Kurzum: Das visionäre Image des TV-Projekts bröckelte. Erste Verdachte auf 'Scripted Reality' (vorgeschriebene Handlung/Realität) wurden laut. Man fragte sich schon: Sind die Kandidaten wirklich echt? Sind die Charaktere vielleicht nur Schauspieler oder sind sie echt und einfach nur gut gecastet? Dennoch schauten viele weiter, so auch ich.

Doch ich ärgerte mich mehr und mehr über die Tatsache, dass es nicht wirklich voran ging mit Ideen und Visionen für die neue Welt. Stattdessen wurden alltägliche Dialoge durch reißerische Aufmachung künstlich dramatisiert, stets begleitet von der Frage: "Läuft da was zwischen Kandidat X und Kandidatin Y?" Die einzigen Kandidaten - bei Newtopia "Pioniere" genannt -, die etwas verändern wollen, wurden und werden durch geschickten Schnitt und Nachbearbeitung des Rohmaterials lächerlich gemacht, gar als faul, abgehoben und realitätsfern hingestellt. Vermutlich, damit der Sat.1-Brot-und-Butter-Zuschauer ein Feindbild zum Aufregen hat: Die akademische 'herumschnorrende' Elite ohne Arbeitsbereitschaft. Dabei bedarf es eben jener Menschen, um eine Gesellschaft zu verändern. Ich zitiere einmal mehr George Bernard Shaw - übrigens auch ein Autor 'utopischer Visionen' -, welcher der Ansicht war, diese Welt brauche in Anbetracht dessen, wohin uns die Normalen gebracht haben, dringend ein paar Verrückte.

All diese Unschönheiten brachten das Format sukzessive ins Wanken und für echte Visionen war immer weniger Platz. Das sahen auch die meisten der Kandidaten so, indem sie die ersten Wochen dazu benutzten, Geld zu verdienen, um sich einige 'Luxusartikel' leisten zu können - eine beinah exakte Kopie der 'alten Welt'. Wer nicht mitmachte, wurde als arbeitsfaul und nutzlos abgestempelt, auch vom Off-Kommentar des Senders. Das Wertesystem der 'alten Welt' schien gar nicht erst zur Diskussion zu stehen. Geld war das Thema Nummer 1. Dazu immer mehr Gerüchte und Spekulationen über mutmaßliche Manipulationen und quotengeschuldete Eingriffe durch den Sender. Der Unmut wuchs, bis letzte Woche schließlich die Bombe platzte.

Via Internet-Livestream konnte man eine offenbar betrunkene Chef-Produzentin beim Gespräch mit den 'Pionieren' belauschen - die Kamera wurde versehentlich nicht abgeschaltet. Im Gespräch beklagt die Produzentin den Druck seitens der Zuschauer, des Senders Sat.1 und John de Mol, dessen Produktionsfirma 'Talpa' die Rechte am Format besitzt. Sie spricht von Shitstorms im Internet und Quotendruck, dem damit begegnet werden solle, dass die Produktion aus dramaturgischen Gründen in den Handlungsverlauf eingreift. Eigentlich sollte das Gespräch deeskalierend wirken, denn ihm war ein anderes konspiratives Treffen einiger Kandidaten mit dem Produktionsteam im sogenannten Technikraum vorausgegangen, über das sich andere, 'nicht eingeweihte' Kandidaten beschwert hatten. Der langen Rede kurzer Sinn: Durch die Aktionen kam heraus, dass es sich nicht - wie vom Sender behauptet - um Kandidaten handelt, die völlig autark und nach ihren Wünschen und Wertvorstellungen handelnd eine neue Gesellschaft erdenken dürfen, sondern um ein weiteres Format, das der Quote gehorchend an allen Ecken und Kanten 'zurechtgebogen' werden muss.

Statt dieses Chaos zu nutzen und eine offene, ehrliche Diskussion in Gang zu setzen, bringt Sat.1 ein Bauernopfer, indem der Sender besagte Produktionsleiterin entlässt. In einer Stellungnahme heißt es, man werde die redaktionellen Eingriffe in Zukunft nicht etwa abschaffen, sondern "so gering wie möglich" halten. Was ist davon zu halten? Schließlich hat besagte Redakteurin nur ihrem Frust Luft gemacht und das ausgesprochen, was sowieso schon in aller Köpfe herumgeisterte: "Alles Fake!" Anstatt die verantwortliche Redakteurin zu feuern, sollte man sie als Heldin feiern. Schließlich hat sie - wenn auch unbewusst - allen gezeigt, wie es hinter den Kulissen wirklich abläuft (als hätten wir es nicht schon längst alle gewusst...) und welcher Leistungsdruck nicht nur auf der Medienbranche, sondern auch auf den in ihr und für sie arbeitenden Menschen lastet.

Was zieht man aus diesem Medienskandal (der eigentlich gar keiner ist) für Konsequenzen? 'Privatsender meiden' wäre eine Lösung - doch ob die öffentlich-rechtlichen wirklich soviel besser sind? Fernsehen ganz verbannen, alles Teufelswerk? So schwarz-weiß möchte ich die Medienlandschaft dann doch nicht betrachten. Ob ich 'Newtopia' weiter verfolgen werde? Ich weiß es noch nicht genau. Sind Visionen, die von einem Autorenteam vorgegeben werden, nicht letzten Endes auch Visionen? Wäre es nicht sogar möglich, dass 'Visionen, die mehr Quote bringen', ganz quotenunabhängig auch im Alltag etwas taugen, Script hin oder her? Der Reiz der Authentizität ist weg, das steht außer Frage, dennoch interessiert mich der weitere Verlauf des Projekts: Werden doch noch wichtige Lebensfragen diskutiert werden? Wird es doch noch Anreize geben, eine bessere Gesellschaft zu erschaffen? Heiligt der Zweck da die Mittel? Wo stehen die Kandidaten in 10 Monaten, also am Ende des TV-Experiments? Wird der Skandal evtl. doch noch ein Nachspiel, vielleicht sogar eine Diskussion über die Rolle der Medien und die systematische Irreführung der Zuschauer zur Folge haben?

Während ich über solche und ähnliche Fragen nachdenke, beschleicht mich mehr und mehr das Gefühl, schlicht verarscht worden zu sein - immerhin habe ich das Projekt über 2 Monate hinweg ca. 5 Stunden wöchentlich verfolgt. Hatte ich wirklich geglaubt, beim TV-Projekt 'Newtopia' gehe es um eine bessere Welt? War ich naiv genug zu denken, ein profitorientierter Privatsender - quasi die Ausgeburt des konsumorientierten Kapitalismus - wolle ein Format senden, um nachhaltige Gesellschaftsformen zu entwickeln? Hat sich mein Idealismus da mit meiner kindlichen Naivität gebissen oder letztere ersteren einfach euphorisch überrannt? Taugt das Medium Fernsehen überhaupt zur Verbesserung einer Gesellschaft bzw. taugt das Medium Fernsehen überhaupt etwas...? Vielleicht sollte man es so halten wie Groucho Marx, einer der legendären 'Marx Brothers', der über den Bildungsanspruch von TV-Programmen sagte: "Fernsehen bildet. Immer wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese." Wenn man dann noch Axel Springer, Heinrich Bauer und wie sie alle heißen meidet, könnte Marx Recht behalten. Doch wo bleibt da der Spaß?

Vermutlich liegt die Wahrheit mal wieder irgendwo in der Mitte: TV dosiert einschalten, entsprechende Formate mit dem nötigen Abstand ansehen, bei der Literaturauswahl irgendwo zwischen 'Bild der Frau' und Fjodor Michailowitsch Dostojewski einpendeln. Dann klappt das schon mit dem Bildungsanspruch ohne Reue. Vielleicht enstünde ein authentisches und lebenswertes Utopia so ganz von selbst. Nicht im TV, sondern in den Köpfen der Menschen.

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